Mit dem Bürgergeldgesetz ist der Bezug von Grundsicherungsleistungen wieder verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Im Mittelpunkt der Diskussionen stehen die Höhe der Leistungen und die Arbeitsanreize. Dabei wird jedoch meist übersehen, dass viele Berechtigte ihren Anspruch auf Grundsicherungsleistungen nicht wahrnehmen. Schätzungen gehen davon aus, dass die Dunkelziffer in Deutschland sehr hoch ist (35 bis 40 Prozent bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende, 60 Prozent bei Rentnerinnen und Rentner). Um das weit verbreitete Phänomen der Nichtinanspruchnahme zu verstehen, wurden im Forschungsprojekt „Die Nichtinanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen. Welche Rolle spielt die soziale Einbettung?“ an der Ernst-Abbe-Hochschule (EAH) Jena neue Daten durch eine repräsentative bundesweite Bevölkerungsbefragung und zusätzliche Tiefeninterviews in Thüringen erschlossen. Das Projekt befasste sich sowohl mit Erwerbsfähigen als auch mit Rentnerinnen und Rentnern.

Probleme auf dem Weg zur Grundsicherung

Die Forschungsergebnisse der Befragung mit rund 1.000 Personen zeigen, dass Vorbehalte gegenüber der Inanspruchnahme von Grundsicherungsleistungen in der Bevölkerung weit verbreitet sind. Viele Menschen würden im Bedarfsfall bewusst auf ihre Ansprüche verzichten (50 bis 60 Prozent) und fordern dies häufig auch von anderen ein (ein Drittel der Bevölkerung).

Um die hohe Nichtinanspruchnahme zu verstehen, lassen sich einerseits Hürden im Leistungssystem betrachten. Dazu zählen aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger Informationsprobleme und komplizierte Antragsverfahren. Von größerer Bedeutung ist jedoch die Sorge, im sozialen Umfeld als hilfebedürftig und damit als arm zu gelten.

Wenn Grundsicherung der Alltagsbewältigung im Weg steht

Mit Hilfe von knapp 20 Tiefeninterviews in Thüringen konnten die komplexen subjektiven Logiken der Nichtinanspruchnahme rekonstruiert werden. Dabei wurde deutlich, dass die Frage nach den Zugangsbarrieren für die Menschen bei der Nichtinanspruchnahme gar nicht im Vordergrund steht. Vielmehr erscheint die Grundsicherung selbst als zentrales Hindernis für die eigene Lebensgestaltung. Es zeigen sich vier typische Konstellationen: Während die einen ein höheres Selbstwertgefühl aus der Abgrenzung zu vermeintlich unwürdigen Bezieherinnen und Beziehern generieren, erfahren andere gerade durch einen Lebensstil ohne Grundsicherung Anerkennung. Wiederum andere sehen in der Grundsicherung eine Überforderung und permanente Belastung, auf die sie auch aus Angst verzichten. Ein letztes typisches Muster zeigt sich bei denjenigen, die die Grundsicherung nicht als kurzfristige Hilfe in schwierigen Situationen sehen, sondern als Eingeständnis des persönlichen Scheiterns.

„Die Untersuchung macht deutlich, dass es bei der Wahrnehmung der Grundsicherung um mehr geht, als um einen rechtlichen Anspruch auf Geldleistungen. Der Bezug von Grundsicherung steht immer auch für eine bestimmte soziale Position und persönliche Eigenschaften“, so Prof. Dr. Felix Wilke vom Fachbereich Sozialwesen der EAH Jena.

Die vollständigen Ergebnisse der Studie mit sozialpolitischen Vorschlägen zur Reduzierung der Nichtinanspruchnahme sind in einem Forschungsbericht erschienen und stehen der Öffentlichkeit zur Verfügung. Das Projekt wurde durch das „Fördernetzwerk Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung“ des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales für eine Laufzeit von knapp zwei Jahren (Dezember 2021 bis September 2023) gefördert.

Weitere Informationen:

https://www.sw.eah-jena.de/nvg

Wissenschaftlicher Ansprechpartner:

Prof. Dr. Felix Wilke

Lehrstuhl Soziologie in der Sozialen Arbeit

EAH Jena, Fachbereich Sozialwesen

felix.wilke@eah-jena.de

03641 / 205 815